Es war einmal ein Geschwisterpärchen, das nicht unterschiedlicher hätte sein können. Der Jüngling hieß Hänsel und litt an Übergewicht, da er den ganzen Tag nur von Mochi und Elisenlebkuchen lebte. Seine Schwester hörte auf den Namen Pilzl. Ein reizendes junges Mädchen, immer hilfsbereit und freundlich. Ihr richtiger Name war eigentlich Pia Luiza, aber da man sie aufgrund ihrer Schwerhörigkeit ständig rufen musste, ging "Pilzl" einfacher über die Lippen. Niemand weiß, was zum Zeitpunkt ihrer Geburt in den Köpfen der Eltern vorging, zumindest nichts Gutes. Da ihre Tochter mit einem Pilzkopf geboren wurde, schienen sie sehr mit sich und der Welt zu hadern und dies an ihrem genug gestraften Kind auszulassen, indem sie ihr so einen scheußlichen Namen gaben. Bei Pilzls Erscheinungsbild handelt es sich nicht um einen simplen Beatles-Haarschnitt, nein, die Arme trug einen richtigen Fliegenpilz auf ihrem Hals.
Mit zunehmendem Alter wuchs ihr "Kopf", nahm ein kräftiges Rot an und auch die weißen Punkte darauf, wurden immer deutlicher. Auch die Abneigung ihrer Eltern gewann an Ausmaß. So kam es, dass sie eines Tages den Anblick ihrer Tochter nicht mehr ertragen konnten. Hänsel und Pilzl mussten das Elternhaus verlassen, unter anderem auch, weil Hänsel seinen Eltern die Haare vom Kopf aß.
Es war an einem eisigen Dezembertag, wenige Tage vor Weihnachten, um genauer zu sein war es der vierte Advent als die beiden Kinder früh morgens ihr trautes Heim verließen, um in die große, weite Welt zu ziehen. Doch wohin? Da Pilzl keine Augen auf ihrem Pilz hatte und Hänsel nur an Essen denken konnte, entschieden sich die beiden dazu, einfach geradeaus zu laufen und zu sehen, wohin sie der Weg führte. Sie liefen und liefen und liefen, durch Tenjin, den Kashii Markt und letztendlich durch den Tachibana Yama Wald. Ein düsterer Wald aus dichten Bambusstämmen und Mikanbäumen auf denen ein paar hungrige Blatttröten saßen und nervige Quieklaute von sich gaben. "Eeeedelweiß" schallte es von einem Ast. Erschrocken blickte sich Hänsel um. Zu gern hätte er sich eine Mikan gepflückt, da sein Mochi-Proviant schon seit Beginn ihres Fußmarsches aufgebraucht war und die Konbini-Stores ausgerechnet an diesem Tag entschlossen hatten, ihre 24-stündigen Service-Zeiten um die Hälfte zu verkürzen. Zannen!
Da die Blatttröten ihn feindselig anblickten, traute er sich nicht, nach einer goldgelben Frucht zu greifen und so musste er sich damit zufrieden geben, an französisches Gebäck oder Reisbällchen zu denken, was seiner Figur sicher nicht schadete.
"Ich kann nicht mehr!", schniefte Pilzl und wischte sich eine Träne aus einem weißen Punkt. Genau in diesem Moment hielt ein weißer Toyota, von der Sorte Familienkutsche, neben den Kindern.
Ein junges Pärchen blickte aus dem Auto heraus und fragte freundlich, wohin die beiden denn zu dieser späten Uhrzeit wollten. "Irgendwohin, wo es etwas zu essen gibt, Udon, Ramen, Mochi, ganz egal, ich würde jetzt sogar Nattou (fermentierte Sojabohnen) essen können.", meinte Hänsel. "Habt ihr denn überhaupt Mikan, die ihr uns im Gegenzug geben könnt? Hänsel blickte hoffnungsvoll zu den Blatttröten hinauf, doch schüchterte ihn das schallende "Eeeeedelweiß" zu sehr ein, als dass er für eine Autofahrt sein Gehör riskiert hätte.
"Gut, dann leider nicht.", meinte der junge Mann am Steuer schulterzuckend. "Aber wenn ihr weiter geradeaus lauft, vorbei an den Kouyou-Bäumen und dem Haus des "hen na ojisan", dann gelangt ihr nach 5 Minuten zum "Sweets Paradise", einem Haus ganz aus Lebkuchenteig. Viel Glück!"
Die beiden schöpften neue Hoffnung, bedankten sich durch übertriebenes Verbeugen und Kopfnicken (zumindest Hänsel) und machten sich sogleich auf den Weg in Richtung Sweets Paradise. "Du Hänsel, weißt du was mein größter Wunsch ist?", fragte Pilzl ihren Bruder. "Ich würde so gerne einmal ein Foto in einem Purikura-Automaten machen. Ich will so gerne wie alle anderen Mädchen überdimensional große Augen dadurch kriegen sowie eine pfirsichfarbene, reine Haut. Meinst du, ich werde das irgendwann einmal machen können?" Hänsel überlegte und meinte, dass es sicher irgendwann möglich wäre, da die heutige Schönheitschirurgie doch alles richten könne. Damit gab sich seine Schwester vorerst zufrieden und so trotteten die beiden weiter durch den Wald, vorbei an den Kouyou-Bäumen und dem Hause des "hen na ojisan", bis sie endlich am Sweets Paradise ankamen.
Beeindruckt blieb Hänsel stehen und blickte auf all die guten Sachen, aus denen das Häuschen gebaut war. "Erzähl, erzähl, wie sieht es aus?", quengelte Pilzl, die ja leider nichts sehen konnte. "Einfach zu gut, wir sind im wahrsten Paradies angelangt, Pilzl!"
"Irasshaimaseeeee! Sweets wa ikaga desuka?" (=Tretet näher, möchtet ihr etwas von den Süßigkeiten?) ertönte eine Stimme aus der Türe des Häuschens. Eine ältere Japanerin mit grauen Löckchen, die unter einem Kopftuch hervorschauten, winkte die beiden Kinder einladend in des Lebkuchens Innere. "Ihr dürft so viel essen wie ihr wollt. Greift zu!" Hänsel ließ sich das natürlich nicht zweimal sagen und griff beherzt zu einem dicken Mochibällchen. Nur Pilzl stand stumm an der Türschwelle und hatte keinen Durchblick. "Ach Gottchen, Kind. Wie siehst du denn aus?", fragte die Alte. "So kannst du doch nicht herumlaufen?!" Bestürzt strich sie über den Fliegenpilz und murmelte vor sich hin. Wie alte Frauen in Lebkuchenhäusern eben sind, hatte auch diese hier magische Fähigkeiten, die sie aber natürlich nicht ohne Gegenleistung anwenden wollte. Nachdenklich blickte sie sich zu Hänsel um, der gerade dabei war, das als Sitzgelegenheit dienende Onigiri Reisbällchen zu verdrücken. "Du da, denk doch nicht immer an das Essen, sondern zur Abwechslung auch mal an deine Schwester." Hänsel hörte auf zu kauen und blickte die Hexe fragend an. Izumi, so hieß die Hexe, erklärte ihm, dass sie Pilzl ein neues Gesicht zaubern würde, wenn er dafür dreimal beim Mochitsuki mithelfen und als Sumoringer im diesjährigen Tachibana Tournament antreten würde. Hakuhou würde sein Kampfname sein und großer Erfolg sei ihm vorhergesagt. Dafür dürfe er auch so viel essen wie er wolle. Und nicht zu vergessen, er müsse Pilzls neuen Kopf vom Dach des Lebkuchen holen, ohne auf den Weg dorthin etwas vom Haus zu essen. Das klingt zwar schwierig, doch nach einem fairen, machbaren Deal, dachte sich Hänsel und willigte ein. So kam es, dass zwei arme Kinder ein neues Zuhause gefunden hatten, ein erfolgreicher Sumo Hänsel und eine großäugige Pia Luiza, die einmal die Woche mit Izumi nach Tenjin fährt und dort Purikurabilder macht. Owari!
Dies ist eine wahre Geschichte, welche ich in Kurzfassung geschrieben habe, sich aber eigentlich auf den Zeitraum Oktober-Dezember 2011 bezieht und in Fukuoka, Japan mehr oder weniger stattgefunden hat. ;)
Ich wünsch euch allen einen schönen Adventssonntag, sowie eine verbleibende, entspannte Adventszeit!
Mata ne!
Wieder eine Lernpause und wieder beste Unterhaltung. Danke hierfür. :)
AntwortenLöschenAm Freitag wäre ich eigentlich auf dem Weihnachtsmarkt beim Chinesischen Turm gewesen, aber Orkantief Joachim hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bei der Gelegenheit hätte ich gleich ein Foto vom, in diesem Fall idealerweise Schneebedekten, Weihnachtsmarkt gemacht und hier reingestellt, da du in einem Blogeintrag geschrieben hast, dass du daran gerne zurückdenkst. Aber dieser Joachim.. :) Und wie ich feststellen musste, können Kommentatoren sowieso keine Fotos hochladen.
Das schreit nach einer Revolution. :)
Schöne Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Liebe Grüße
Max